Wenn du wen kennenlernen willst, musst du ins Internet. Zugegeben, das ist für eine Datingkolumne im Jahr 2024 eine etwas banale Erkenntnis. Allerdings habe ich es eine Zeit lang ernsthaft offline versucht. Während ich im echten Leben »meine Augen offen hielt« aka nach zwei Bier zu viel mit suchendem Blick über die Tanzfläche stierte, kassierten meine Freunde jedoch ein Match nach dem anderen. Wenn sie sich dann später darüber beklagten, dass ihre Aufrisse unaufhörlich quatschten oder einen fragwürdigen Kleidungsstil pflegten, packte mich der schiere Neid. »Er hat nicht nur einen Trenchcoat getragen, sondern auch noch Crocs«, musste ich mir dann anhören, »außerdem verwendete er ein altes Backrohr als Bücherregal«. »Wow, echt schlimm!«, entgegnete ich gespielt verständnisvoll, während sich zeitgleich meine Zehennägel vor lauter Sehnsucht einrollten. Wenigstens hatten sie überhaupt jemanden kennengelernt! Nur zu gerne würde ich jemanden daten, der ein ausrangiertes Haushaltsgerät einem neuen Verwendungszweck zuführt. Für solche Albernheiten von der Kunstuni habe ich nämlich eine kleine Schwäche. Aus diesen Gründen entschied ich mich vor ein paar Wochen für einen Re-Download von Tinder. Doch die App hatte sich stark verändert, seit ich sie zum letzten Mal verwendet hatte.
Zu schön für Wien
Dabei war Online Dating schon immer eine oberflächliche Angelegenheit. Ein paar Zentimeter dazu geschummelt (»weil das hier anscheinend wichtig ist«), ein paar Filter drübergelegt, ein bisschen in den Salat gelacht, überhaupt eine Fotoauswahl, als handle es sich um das Freizeitangebot eines Magic Life Clubs. Deshalb sahen Menschen, die auf Dating Apps erfolgreich waren, immer ein bisschen aus wie Models für Stockfotos. Eine jüngere Entwicklung ist jedoch, dass nicht wenige von ihnen tatsächlich Models für Stockfotos sind. Durch mein fortgeschrittenes Alter war ich nämlich ins Visier von sogenannten »Love Scammern« geraten, die sich über Fake Profile den Weg in die Herzen und Geldbörsen von Partnersuchenden bahnen (das ZDF berichtete). Nicht mit mir! Jede Person, die zu gut aussah für Wien, wurde von mir gnadenlos nach links geswiped. Gut, dass wir in einer Stadt leben, in der praktisch alle irgendwas Schiefes im Gesicht haben. Doch die wahre Misere offenbarte sich unter den Profilbildern im Profiltext – der sogenannten Bio. Tinder hatte in der Zwischenzeit ein neues Feature freigeschaltet: Bis zu fünf seiner Hobbies konnte man in seiner Bio angeben. Seither liest man dort von so niederschmetternden Dingen wie »TV-Serien bingen« oder »Kaffee«, bevor man sich entscheidet, sein Leben doch lieber in Einsamkeit zu verbringen. Kaffee ist doch kein Hobby!
»Nichts Ernstes«
Aber es scheint ohnehin kaum jemand an Beziehungen interessiert zu sein. Die meisten setzen ihr Häkchen bei der Option »Nichts Ernstes«, wenn die App sie fragt, worum es ihnen eigentlich gehe. Ich konnte nicht umhin, mich zu wundern: Sind wir als urbane Singles mittlerweile komplett beziehungsunfähig geworden? Oder haben wir uns bloß von einem Ewigkeitsanspruch gelöst, der unserem Anbandeln seit jeher viel zu viel Druck auferlegte? Letzteres wäre nicht nur schlecht. Eigentlich zwingt uns 2024 keine Dampfmaschine mehr, die Reproduktionsarbeit einer Kernfamilie auszuführen. So entschied auch ich mich für »Nichts Ernstes«. Weil ich allerdings zu knausrig für das Premium-Angebot von Tinder war, zeigte mir die App fast ausschließlich Menschen an, die ich schon längst kannte. Deshalb tat ich, was jede Person aus Wien tut, der ein bisschen langweilig ist: Ich verbrachte ein Wochenende in Berlin. Denn auch wenn vieles an der Spreemetropole nervt: Ihr Tinder ist awesome.
The odds are good but the goods are odd
Alle umweht dort ihr ureigener Flava. So lernte ich binnen zwölf Stunden mehr als eine Handvoll Personen kennen, die ein Backrohr als Bücherregal verwenden. Manche sogar eine ganze Küchenzeile. Ein wahres Paradies für Individualist*innen! Ich swipte durch so viele besondere Profile, dass ich immer größere Schwierigkeiten hatte zu unterscheiden, was noch Tinder war und was die Realität. Irgendwann stand ich in einer schummrigen Bar. Alle um mich herum trugen Trenchcoats und Crocs, allerdings nicht aus Stilgründen, sondern weil der Boden extrem klebrig war. Ganz hinten an der Bar sah ich einen süßen Typen, der in einen Salat lachte. Erst als ich mich näherte, erkannte ich, dass es sich um gar keinen Salat handelte, sondern um einen anderen Typen mit schlecht gefärbten grünen Haaren. Der süße Typ drehte sich zu mir um und blickte mir tief in die Augen. Dann richtete er seine Worte an mich: »Deine Ausstrahlung ist einzigartig. Ich kann spüren, dass ein reines Herz in deiner Brust schlägt, das bereit ist zu lieben. Deshalb möchte ich gerne mein restliches Leben mit dir verbringen”. Es ist unnötig zu erwähnen, dass er komplett auf Drogen war. Ich bestellte uns beiden einen Kaffee und swipte ihn nach rechts. Will heißen: Ich gab ihm eine sachte Ohrfeige. Schließlich hörte er sich verdächtig nach einem Love Scammer an.
Dieser Text erschien in The Gap Nr. 204.