Online Dating ist ein bisschen wie Pferderennen. Zuerst gibt man sich einen doofen Namen wie Astroboy oder LeRock, dann dreht man sich stundenlang im Kreis. Wenn sich jemand für dich entscheidet, dann anhand völlig willkürlicher Kriterien. Denn niemand, der bei Trost ist, würde je darauf wetten, in einer Arena voller Spielsüchtiger das große Glück zu finden. Als ich letztes Frühjahr alle Dating Apps löschte, war ich überzeugt, dass in echt alles anders würde. Wilde Pferde würden mich nicht wegschleifen können, wenn ich auf wöchentlicher Basis neue, schicksalshafte Begegnungen machte. Was folgte, war das datingtechnisch ereignisloseste Jahr meines Lebens. Im Lichte dieser Erfahrung ist die Begeisterung zu verstehen, die ich empfand, als ich vor kurzem IRL auf einen blonden Poetry Slammer traf. Nach ein paar Takten Gespräch am Rande einer Veranstaltung war ich mir sicher: Wir beide, Schmiede von Worten, würden schon bald nebeneinander in den Sonnenuntergang galoppieren. Außerdem waren wir beide solide Sechsen. Die materielle Basis ist in solchen Belangen schließlich nicht ganz unwichtig. Doch leider hatte ich mit ihm auf das falsche Pferd gesetzt.
Eyes on the prize
Noch am selben Abend tauschten wir ein paar Nettigkeiten und unsere Nummern aus. Ein paar Tage später war ein gemeinsamer Ausflug nach Bratislava ausgemacht, der sich dann aber um ein paar Wochenenden verschieben sollte. Poetry Slammer sind eben extrem beschäftigte Menschen, diese ganzen Verse schreiben sich schließlich nicht von alleine. Wenigstens gab mir die Verzögerung genug Zeit für meine Recherche. Eine Woche lang studierte ich seinen LinkedIn, seine Amazon-Wunschliste und den Travelblog von 2014, auf dem er seinen Round-the-World-Trip verarbeitete. Sein penibel editiertes Facebook-Profil verriet mir außerdem, dass wir am selben Tag Geburtstag haben. Wenn das kein Wink des Schicksals war! Eine weitere Woche verwendete ich darauf, all meine Recherchefunde wieder zu vergessen, um nicht unabsichtlich viel zu spezifische Details zu erwähnen. In den letzten Tagen vor dem Date brachte ich meine Wohnung auf Vordermann. Ich putzte drei Fenster, die seit dem ersten Lockdown kein Lappen mehr berührt hatte, und ging außerdem zu IKEA, um ein paar meiner Heimtextilien zu erneuern. Nichts wollte ich dem Zufall überlassen, der Rückweg aus Bratislava sollte nämlich in meinem Schlafzimmer enden. Deshalb hielt ich mich auch mit Kurznachrichten zurück. Ich wollte mein Glück nicht herausfordern.
Horsin’ Around
Als er zehn Minuten zu spät auf dem Bahnsteig erschien, hatte ich dort bereits 25 Minuten gewartet. Als er fragte, wie lange ich gewartet hätte, behauptete ich im selben Moment angekommen zu sein wie er. Es war eben nicht mein erster Tag auf dem Rodeo. Auf der Zugfahrt unterhielten wir uns etwas bemüht über Slam Poetry, Poetry Slams und Bratislava, über dessen Poetry Slam-Szene er nicht so gut Bescheid wusste. Dabei schimmerte sein blondes Haar in der Frühlingssonne, die unsere Gesichter durch die Zugfenster wärmte. Kurz dachte ich daran, wie wir eines Tages alt sein würden und an die Geschichten denken, die wir uns auf dieser Zugfahrt hätten erzählen können. Das Gespräch kam nämlich nur schwer in die Gänge. In Bratislava angekommen bummelten wir durch die Innenstadt. Ich war mir sicher, dass der Moment gekommen war, um mein Manöver zu starten. »Wann hast du eigentlich Geburtstag?« fragte ich beiläufig. Der darauf folgende Dialog machte Bratislava um einige Grad wärmer. »So ein Zufall, ich auch!« Als frischgebackene Geburtstagsbuddys holten wir uns Dosenbier und unterhielten uns auf einmal merklich angeregter. Freimütig teilten wir unsere Hoffnungen, unsere Ängste und unsere Träume. Dabei war jeder Satz ein Stückchen Poesie. Doch plötzlich zogen dunkle Wolken auf.
Doch kein Bratislover
Wir unterhielten uns über Bratislava und ich beklagte, es viel zu selten zu besuchen. Noch während ich sagte »Bratislava hat immerhin 440.000 Einwohner. Ungefähr so viele wie Edinburgh, wo du in der Siebten deinen Sprachkurs absolviert hast!«, wusste ich, dass ich über das Ziel hinausgeschossen war. Doch was passiert ist, war nicht mehr rückgängig zu machen. Wir nahmen den nächstbesten Zug zurück nach Wien. Während der Poetry Slammer wild in sein Notizbuch schrieb, vertiefte ich mich in mein Handy. Als wir eine gute Stunde später den Hauptbahnhof erreichten, glühte mein Gesicht noch immer vor Scham. Zum Abschied holte der Poetry Slammer sein Notizbuch hervor und begann mit geschwellter Brust daraus vorzutragen. »Josef, es war. Mit dir. Ein angenehmer Tag. Wir begaben uns. Auf eine Reise. Zogen in Bratislava uns’re Kreise. Doch beim dritten Dosenbier. Wusstest du zu viel von mir. Das war. Zu viel Interesse. Besser, wenn ich dich vergesse«. Ich applaudierte kraftlos und machte mich auf den Heimweg. Als routiniertes Rennpferd hatte ich meine Augen zu sehr auf den Preis gerichtet. Bei der nächsten schicksalshaften Begegnung würde ich cool bleiben und nicht wieder komplett durchdrehen. Kein Typ der Welt ist es wert, drei Fenster zu putzen.
Dieser Text erschien in The Gap Nr. 198.