Deine Würstelstand-Bestellung verrät immer etwas über dich selbst. Wenn du was zu essen bestellst, willst du eigentlich heim. Wenn du was zu trinken bestellst, willst du noch ein bisschen aufbleiben, und wenn du »a Eitrige mit an 16er Blech« bestellst, bist du höchstwahrscheinlich ein Tourist. Es muss zwischen zwei Lockdowns gewesen sein, als ich auf den Geschmack gekommen bin. Eines Nachts hatte sich ein Rapid-Fan mit seiner Hosenkette in der Sitzbank auf der Pilgrambrücke verfangen. Ich saß zufällig neben ihm und befreite ihn aus seiner misslichen Lage. Dafür war er so dankbar, dass er mich bei der »Würstelmausi« auf ein Bier einlud. Dort gesellten sich ein Philosophiestudent und ein Busfahrer zu uns, und aus dem einen Bier wurden fünf. Ich solle unbedingt mal mit ins Stadion kommen, meinte der Rapidler zum Abschied, es würde mir bestimmt gefallen. Mir gefiel schon allein die Vorstellung: Ich, unter lauter Fussballfans, wie ich mit ihnen – ungeachtet aller gesellschaftlichen Barrieren – über ihre Sorgen und Nöte spreche. Josef Jöchl, man of the people! Noch Wochen später schwärmte ich von diesem tollen Abend am Würstelstand. Corona hätte die Menschen einfach näher zusammen gebracht, dozierte ich bei jeder Gelegenheit, gesellschaftliche Unterschiede fielen spät nachts, unter lauter Würsten, eben nicht mehr so stark ins Gewicht. Ins Stadion habe ich es seither zwar nicht geschafft. Doch meine Abende ließ ich von nun an immer öfter am Standl ausklingen.
Sausage Party
Allerdings war ich ständig auf der Hut. Nur zu schnell konnte man am Würstelstand in ein Fettnäpfchen treten. Deshalb folgte ich immer demselben Schema: Ich kam um zwei oder drei, bestellte mir unauffällig eine Dose Bier und platzierte mich am Rande des Geschehens. Erst wenn es passte, fragte ich wie Toni Spira: »Na, essen’s oft ein Würschtel?« oder »Sind’s zufrieden mit Ihrem Leben?« Manchmal sprudelten meine Gegenüber drauflos wie ich nach zwei Litern Kombucha. Manchmal beobachtete ich sie auch nur beim Armdrücken. Einmal nämlich forderte ein junger Dude den Würstler Gery zum Duell heraus – zu einem Wetteinsatz, der meinen kleinbürgerlichen Herzschlag für einen Moment aussetzen ließ: 4.000 Euro. Der Mittfünfziger Gery winkelte seinen Arm beherzt an, verlor jedoch binnen 30 Sekunden. Trotzdem gelang es ihm, den Wetteinsatz von 4K auf ein einziges Bier herunterzuhandeln und das Gespräch wieder auf den Beziehungsstreit zu lenken, in dem sich der junge Dude und seine Freundin befanden. Weil Gery mich meistens neutral bis freundlich vorstellte (»Er ist ein Schwuler«), ließen mich die Würstelstandbesucher*innen gerne an ihren Problemen teilhaben. Polterrunden, kleine Schlägereien, irgendwelche Christians aus dem Sales-Bereich, die nach vier ihre tief vergrabene Bisexualität entdeckten: Selten zuvor erschien mir die etwas biedere Ecke der Innenstadt, in der ich wohne, so voller Leben wie in diesen Nächten. Vor allem, wenn Schnaps im Spiel war.
Verdinglichte Zuneigung
Eines Abends stieß ich auf eine Runde Männer. Sie war von der Sorte, die Brettspiele mag und nie aufgehört hat Cargopants zu tragen, und hatte sich um die Hauptattraktion dieser Nacht versammelt: zwei junge Frauen, Kellnerinnen des benachbarten Irish Pubs und von Berufs wegen an Incels gewöhnt. Der Vibe war Jägermeister. Gery stellte mich vor (»Er ist ein Stammgast«), und schon war ich in die Jäger-Runde eingebunden. Zsam, zsam, zsam. Es herrschte eine ausgelassene Stimmung, die irgendwann auch einen Neuankömmling an den Stand lockte. Der Neue stand zunächst etwas schüchtern im Abseits, beantwortete jedoch gewissenhaft alle meine Fragen (»Sind’s auch aus dem Bezirk?«, »Was bedeutet Glück für Sie?«). Er entpuppte sich als Küchenhilfe vom Plachutta. Auch er wollte sich in die Jäger-Runden einklinken. Doch als ihm Gery vorrechnete, wie viel neun Jägermeister kosteten, geriet er ins Wanken. Ich persönlich hatte mir diesbezüglich schon längst eine Meinung gebildet. Eine weitere Runde Jägermeister hielt ich zu diesem Zeitpunkt für völlig übertrieben, schließlich hatten wir schon drei gehabt und selbst die waren noch nicht ganz ausgetrunken. »Die sind alle schon total besoffen«, beschwörte ich den Neuankömmling, »spar’ dir dein Geld und kauf dir was Erfrischendes, dann hast du morgen kein Kopfweh«. Doch da drehte sich der Wind. Mein pädagogischer Impuls hatte einige der Anwesenden gehörig verärgert. Gery warf mir ein ungewohnt konfrontatives »Bist deppat, Oida?« an den Kopf. Die zwei Kellnerinnen pochten, obwohl bereits schwer angezählt, lautstark auf ihrem Recht nach einer weiteren Runde. Sogar der Pulk Incels sonderte sich von mir und der Küchenhilfe vom Plachutta ab. Erst in diesem Moment wurde mir klar, dass es den Anwesenden nie um den Jägermeister an sich gegangen war. Die kleinen grünen Fläschchen waren vielmehr eine verdinglichte Form der Zuneigung, nach der die Kreaturen der Nacht eigentlich suchten. All das erklärte ich der Küchenhilfe vom Plachutta, bevor ich sie einlud, mal mit zum Powerpoint-Karaoke oder zum Bikram Yoga zu kommen, was wir seither leider nie geschafft haben. Doch obwohl ich keine Eitrige bestellt hatte, beschlich mich am Heimweg das Gefühl, dass in diesen Nächten ich der Tourist gewesen war.
Erschien in The Gap Nr. 201.